Die große Chance einen Albtraum zu beenden

Die große Chance einen Albtraum zu beenden

Die Stimme weg, Tränen in den Augen und vollkommen am Ende mit den eigenen Kräften. Am Montagabend um 22:25 Uhr traf das wohl auf den größten Teil aller Hertha-Fans zu. Das Team der Berliner hatte soeben mit einem Riesenspiel in der Relegation in Hamburg den Klassenerhalt gesichert. Ein Kraftakt einer Mannschaft, deren Charaktere zum Teil die Spiele ihrer Karriere absolvierten.

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(Photo by Joern Pollex/Getty Images)

Es war das passiert, was sich ein jeder im blau-weißen Trikot gewünscht hatte – Hertha produzierte Szenen für die Ewigkeit. Eine Initialzündung für die nächste Saison ist möglich. Die Fans und der Verein haben die einmalige Chance, aus einem schier endlos laufenden Albtraum zu erwachen. Eine Einordnung, was dieser Klassenerhalt bedeutet.

Drei Jahre Albtraum – die Chance zu erwachen

Ich vermute, dass viele Menschen einen Albtraum haben, der sich in irgendeiner Form gerne in schlechten Nächten in den Schlaf schleicht und einen das Leben erschwert. Bei mir zum Beispiel gibt es das sich gerne wiederholende Szenario, dass mir Menschen, die mir lieb sind, sagen, dass sämtliche Prüfungen aus Schul – und Unizeiten nachträglich als ungültig erklärt wurden und mir dementsprechend auch die Abschlüsse wieder entzogen wurden. Was mir diese Träume sagen sollen, weiß ich nicht, darum geht es jetzt glücklicherweise aber auch nicht. Als Hertha-Fan erwacht man gerade zum dritten Mal aus einem Albtraum, der sich seit drei Jahren in feiner Regelmäßigkeit wiederholt. Die Sommerpause ist wieder einmal des Herthaners bester Freund.

In den letzten drei Jahren ist so viel rund um Hertha BSC passiert, dass ein Buch nötig wäre, um all das aufzuzählen und einzuordnen. Wieder einmal gelingt der Klassenerhalt und wieder einmal in einer hochdramatischen Art und Weise. Während man 2020 unter Bruno Labbadia fast schon unspektakulär über dem Strich blieb und sich letztendlich im Tabellenmittelfeld stehend in die Sommerpause verabschiedete, war das Szenario 2021 von der Spannung und Dramatik her kaum zu toppen. Die Corona-bedingte Pause, sechs Spiele in wenigen Wochen und am Ende ein feierndes Team um Pal Dardai. Doch was dieses Jahr passieren sollte, ist definitiv unvergleichbar und hätte knapper kaum sein können. Wieder einmal kann die Hertha im buchstäblich letzten Moment dem Tod von der Klinge springen.

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(Photo by Joern Pollex/Getty Images)

Doch was in den jeweiligen Momenten Freude und Erleichterung bringt und eine Form von Glückseligkeit, die sich nicht einmal der aktuelle DFB-Pokalsieger erkaufen kann, freisetzt, folgt erst auf eine dramatische und nervenaufreibende Leidenszeit. Da sind wir wieder beim Albtraum. Die Zeit, in der man nachts wach wird bzw in der das Team in der Sommerpause ist, scheint die genießbarste Zeit auf Erden zu sein. Sobald man die Augen schließt und die Mannschaft in die Saison startet, geht der Schrecken von vorne los. Doch das Potential und die Chance sind da, dass man dieses Mal keine Angst vor einem Albtraum haben braucht.

Hertha BSC braucht Ruhe und Führung   

Um das möglich zu machen, braucht Hertha BSC vor allem Ruhe. Sämtliche Nebenkriegsschauplätze müssen geklärt werden. Aktuell wird der Verein in seinen Grundfesten erschüttert und treibt relativ führungslos daher. Nach dem Spiel gegen den HSV wurde bekanntgegeben, dass Finanzvorstand Ingo Schiller seine Koffer packen würde. Damit zieht der zweite große Chef nach Carsten Schmidt zum Ende dieser Saison die Reißleine. Die Tage von Präsident Werner Gegenbauer sind gezählt, sein Rücktritt scheint ebenfalls beschlossene Sache. Auch das Präsidium steht auf der Kippe. Zusätzlich wird ein neuer Trainer gesucht und viele Vertragssituationen von Personalien im sportlichen Bereich, wie Marcel Lotka, Kevin-Prince Boateng und vielen weiteren Akteuren sind bisher ungeklärt. Weiterhin ist der starke Mann Sportvorstand Fredi Bobic, dem ein Gegenspieler oder zumindest eine ernsthafte Kontrollinstanz im Verein fehlt.

(Photo by Boris Streubel/Getty Images)

Vereinslegenden wie Pal Dardai, Zecke, Michael Hartmann und zuletzt Arne Friedrich wurden unwürdig aus dem Verein entlassen bzw. getrieben. Auch das Verhältnis zur Ultraszene ist nach den vielen Auseinandersetzungen in dieser Saison nicht komplett geklärt. Ebenso muss eingehend besprochen werden, wie man sich zukünftig gegenüber dem Investor Lars Windhorst und seiner Tennor-Holding verhalten möchte. Die Mitgliederversammlung am Sonntag wird richtungsweisend sein, was die Führung des Vereins betrifft. Ein riesen großer Scherbenhaufen muss aufgefegt werden. Und eigentlich nicht nur den dieser Saison. Sondern den der letzten drei Jahre. Denn Transfer-Altlasten wie Dodi Lukebakio, Eduard Löwen oder Deyovaisio Zeefuik gilt es ebenso zu klären.

Man muss sich in gewisser Weise eingestehen, dass die legendären Tagebücher von Jürgen Klinsmann Einblicke gewehrt haben, die anscheinend wirklich zutreffend waren. Mittlerweile wurde zu großen Teilen in die damals geforderte Richtung gehandelt. Weiterhin befindet sich der Verein in einem Umbruch. Ebenso der Kader. Am Ende werden nur wenige Spieler den dritten Umbruch im Verein überlebt haben. Auf die handelnden Personen und insbesondere Fredi Bobic kommt ein Berg an Arbeit zu. Doch nun ist Sommerpause und sie haben die Zeit, all die Baustellen anzugehen. Was das alles für Hertha BSC bedeutet, wird in den nächsten Tagen und Wochen eingeordnet werden.

Ein Genuss legendärer Erlebnisse – Und die Jahre der Mahnung

In der Retrospektive wird man in einigen Wochen, Monaten und Jahren auf die Zeit schauen und wieder einmal unvergessliche Szenen und Erlebnisse ausgraben und besprechen. Es werden schlechte dabei sein, das ist klar. Drei Derbys zu verlieren, nagt am Selbstverständnis eines Jeden, der es mit der Hertha hält. Die schwarze Zeit mit Tayfun Korkut als Trainer. Die Geschichten um Pal Dardai und Arne Friedrich wirken bis heute unfair und machen betroffen. Doch beide sind dank ihrer Vergangenheit mit Hertha positiv verbunden. Dardai war vor wenigen Wochen im Amateurstadion zu Besuch um seinen Sohn Bence im U17-Halbfinale gegen den VfB Stuttgart spielen zu sehen. Arne Friedrich kommentierte den Klassenerhalt auf Twitter mit blau-weißen Herzen.

Der Saisonendspurt hat sich in die Köpfe eingebrannt. Ob es der Befreiungsschlag gegen Hoffenheim war, der frenetische Jubel im Olympiastadion nach dem 2:0 gegen den VfB Stuttgart, die drei verpassten Matchbälle oder junge Spieler, wie Marcel Lotka, Oliver Christensen oder Linus Gechter, die sich für die Hertha begeistern konnten und einen riesigen Beitrag zum Klassenerhalt leisteten. Die Leistungsexplosion längst aufgegebener Leistungsträger, wie Kevin-Prince Boateng und Marvin Plattenhardt, die das Rückspiel gegen den HSV auf phänomenale Art und Weise an sich rissen und ein Tor für die Ewigkeit schossen.

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(Photo by Joern Pollex/Getty Images)

Der Abschied vom langjährigen Herthaner Niklas Stark, der nicht wie verdient gewesen im Olympiastadion stattfand, sondern in abgespeckter, aber nicht minder emotionaler Art und Weise vor den mitgereisten Fans in Hamburg. Die Geschichten wurde geschrieben und nun gilt es sie in irgendeiner Form einzuordnen und zu verstehen.

Es darf selbstverständlich kein „Weiter so“ geben. Das wird es auch nicht, das zeigen die vielen personellen Konsequenzen in den letzten Stunden. Die letzten drei Jahre müssen ein Mahnmal sein. Nicht nur für Hertha, sondern für den gesamten deutschen Fußball. Erfolg lässt sich nicht einfach so kaufen. Mit keinem Geld der Welt. Es gehören gut arbeitende Menschen dazu, die auch mit den vielen Millionen etwas sinnvolles anstellen und daran ist der Verein seit dem Einstieg von Lars Windhorst krachend gescheitert. Beinahe so deutlich, dass der Abstieg kaum noch abzuwenden gewesen wäre. Nach 34 Spieltagen hätte sich kein Mensch beschweren können, wenn es dazu gekommen wäre. Es gilt mit Bedacht und klaren und freien Köpfen zu handeln. Keiner fordert Wunderdinge. Schon gar nicht, dass nächste Saison das Ziel Europa ausgerufen wird. Wenn man sich in den sozialen Medien so umschaut, reicht eigentlich schon eine entspannte, ja fast schon langweilige Mittelfeld-Saison. Und daran sollte man sich orientieren. Es geht nicht um den Wunsch und das Image eines windigen Investors, der von dem Geschäft rein gar keine Ahnung hat. Es geht um die vielen, zehntausenden Fans, die mit dem Verein durch jedes noch so übel lodernde Feuer gehen und ihm die Treue bis in alle Ewigkeiten schwören. Ein Verein und die Fans müssen gemeinsam wachsen, die Ansprüche ebenso. Und das braucht Zeit. Die Sinnkrise und Selbstfindungsphase des Vereins ist noch lange nicht vorbei, doch mit dem Klassenerhalt konnte ein großer Schritt in die richtige Richtung gegangen werden, um diese Phase irgendwann zu beenden.

Aufwachen und die Chancen nutzen

Die Chancen für einen Neuanfang sind da, nie waren sie größer und sie dürfen dieses Mal nicht vergeben werden. Die Reaktionen der Spieler nach dem Spiel zeigen, was solche Abstiegsschlachten psychisch mit Menschen machen. Ein weiteres Jahr in diesen Tabellengefilden wäre schwerer denn je. Fredi Bobic und co. müssen nun einen schlagkräftigen Kader zusammenbauen um Hertha nächste Saison ein ruhiges Jahr zu schenken und einen gesicherten Weg in die Zukunft zu ebnen.

Nur dann gelingt es endgültig aus einem jahrelangen Albtraum zu erwachen.

[Titelbild: RONNY HARTMANN/AFP via Getty Images]

Hertha BSC – Das Grab für jeden Optimisten

Hertha BSC – Das Grab für jeden Optimisten

Es ist 18:24, ich sitze von Bergen umringt an einem kleinen See auf ca. 1.500m Höhe in den französischen Alpen. Die Abendsonne scheint, man hört Vogelgezwitscher und die Welt scheint wunderbar und friedlich. Doch der Kontrast zwischen äußerer Umgebung und innerer Gefühlslage könnte größer nicht sein. Ein kleiner Text über den heutigen Spieltag, die Saison von Hertha und dem Leid eines Menschen, der sich selbst als Optimisten bezeichnen würde.

Hertha, du tust weh

Eigentlich hatte ich nicht geplant, in diesen Wochen einen Text für Hertha BASE zu schreiben. Befinde ich mich immerhin in meinen Flitterwochen und bereise Europa mit dem Wohnmobil. Daher kommt es auch, dass ich das letzte Saisonspiel meiner Hertha nicht gucken kann. Und wenn ich ehrlich bin, war ich froh drum. Ich wusste seit Tagen, dass das heute ein emotionaler Krimi wird, gänzlich unabhängig vom Ergebnis. Das hat Fußball halt so an sich und macht ihn besonders. Wir können mit ihm und durch ihn emotionale Höhen erleben, wie es kaum eine andere Sache auf der Welt vermag. Doch auf der anderen Seite kann er einem das Herz brechen, wie es ebenfalls nur wenige andere Dinge können. Und ein solcher Tag ist heute.

Sisyphos – nur anders

Wer mich ein wenig kennt, sei es über Twitter, die Podcastfolgen, den Blog hier oder auch persönlich, merkt schnell, dass ich ein tendenziell positiv gestimmter und optimistischer Mensch bin. Das hat so seine Vorteile: Man kann oft mit einem Lächeln und schönen Gedanken durch die Welt spazieren, viel Vorfreude empfinden und sich gut gelaunt fühlen. Doch dem Optimist-Sein findet sich inhärent ein großes Problem wieder: Oft ist die Welt eben nicht so positiv, wie man annimmt oder zumindest annehmen möchte. Und in solchen Momenten wird man regelmäßig enttäuscht, auf den Boden der Tatsachen zurück geschleudert und muss danach versuchen, erneut aufzustehen.

Hertha BSC versteht es so gut wie niemand anders, diesen Kreislauf in rasanter Geschwindigkeit Woche für Woche aufs Neue in Schwung zu bringen. Am Wochenende spielt die Alte Dame scheiße und verliert, oft verdient Man ist den Abend nach dem Spiel geknickt, doch schon ab Sonntagmorgen rede ich mir ein, dass es ja nicht so schlimm sei. Irgendeine Ausrede oder Begründung findet man immer: Der Gegner ist ein Top-6-Klub, der Schiri hat schlecht gepfiffen, man hatte Alu-Pech beim Abschluss oder der Gegner macht das Tor seiner Karriere (looking at you, Vogelsammer im DfB-Pokal). Montag, spätestens Dienstag dann fängt man an sich auf das Spiel am nächsten Wochenende zu freuen, dröhnt sich die Woche über mit Hertha-Content zu und wartet am Morgen des Spieltags gespannt auf den Anpfiff. Nur um wieder zu verlieren. Und wieder, und wieder, und wieder.

Hingeworfene Brotkrumen

Bis irgendwann ein gutes Spiel oder gar ein Sieg dabei ist. Beispielsweise das 3:2 gegen den BVB kurz vor Weihnachten oder ein 3:0 gegen einem zu diesem Zeitpunkt extrem starke TSG aus Hoffenheim, die in den Vorwochen 13 von möglichen 15 Punkten geholt hat. Und so steigt das gesamte Grundniveau des Optimismus sprunghaft an, nur um die Wochen danach Stück für Stück wieder abzusinken.

Dabei fing die Saison im weiteren Sinne doch so gut an. Der Sieg gegen Liverpool im Testspiel ließ mein Fan-Herz höher schlagen. Ich dachte mir: Klar, war nur ein Testspiel. Aber es war halt doch immerhin Liverpool, die nicht mit ihrer C-Elf, sondern Spielern wie van Dijk und Mane gespielt haben. Dieser Neuzugang bei uns, der Jovetic, Mensch ist der gut. Und auch Serdar, wieso hat der nur acht Millionen Euro gekostet? Ich war mir sicher, dass wir mit Pal Dardai an der Seitenlinie, dem emotional und sportlich extrem gut verlaufenem Saisonabschluss 2020/21 unter ihm und dem neuen Sportdirektor Fredi Bobic nach zwei Chaosjahren eine vergleichsweise entspannte Saison erleben dürfen.

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(Photo by Frederic Scheidemann/Getty Images)

Doch schon die letzten Testspielen gegen Hannover 96 und St. Pauli ergaben nur Unentschieden, gegen Meppen quälte man sich 90 Minuten bis mich Davie Selke in der Nachspielzeit erlöste. Anschließend: Saisonauftakt gegen Köln. Die zwar einen neuen Trainer hatten, in der abgelaufenen Spielzeit jedoch erst in der Relegation die Klasse hielten, das Hinspiel gegen Kiel ging vor heimischem Publikum sogar verloren. Keine großen Sorgen also, man sollte das Spiel doch locker gewinnen können, dachte ich. Tja, ich lag falsch. Es sollte nicht das letzte Mal in dieser Saison bleiben.

Jovetic traf zwar bereits nach fünf Minuten zur Führung, doch das Spiel ging am Ende verdient und deutlich mit 1:3 verloren. Der Rest ist soweit bekannt, Derby-Niederlage, Dardai-Demission, Korkut-Installation, Derby-Niederlage, Korkut-Entlassung und Magath-Einstellung. Felix Magath. Das saß, ich brauchte mehrere Tage, um das wirklich zu verarbeiten. In meiner Kindheit Bayern-Trainer und Meistermacher bei Wolfsburg, in meinem Kopf war er eine Legende. Dieser Mann sollte MEINE Hertha trainieren? Unmöglich!

Aufschwung

Und Magath lieferte. Im ersten Spiel durch Corona verhindert und im Hotel, doch sein Co-Trainer Fotheringham war für ein paar Tage der Messias in Berlin. Ein Sieg gegen Hoffenheim und drei so dringend benötigte Punkte, gleichzeitig das erste gewonnene Spiel der Rückrunde. Der Optimist in mir erstrahlte. Die anschließend dritte und letzte Derby-Niederlage vor seit über zwei Jahren erstmals ausverkauftem Olympiastadion tat extrem weh und hinterließ tiefgehende Spuren im Verhältnis zwischen (sogenannten) Fans und Mannschaft. Es ist halt einfach so Hertha-like, das erste aufkeimende Gefühl der Hoffnung nach dem Sieg gegen die TSG unmittelbar im Anschluss niederzubrennen.

Sicher geglaubter Klassenerhalt

Das Spiel gegen Augsburg, das erste von drei Endspielen gegen direkte Konkurrenten ließ dann selbst mich staunend zurück. Entgegen meiner sonstigen Gepflogenheit ging ich fest von einer Niederlage aus. Und wurde dafür belohnt. Der große Vorteil eines Pessimisten, er kann nun mal im Worst Case bestätigt, im Best Case positiv überrascht werden. Gegen Stuttgart wählte ich einen ähnlichen Ansatz, wurde wieder belohnt. Und auf was für eine Art und Weise. Das 2:0 von Belfodil in der Nachspielzeit emotionalisierte mich und gefühlt das komplette Olympiastadion wie kaum ein anderes Tor der letzten Jahre. Es fühlte sich nach Klassenerhalt, nach Rettung an. Wie sollte Stuttgart nach diesem Spiel, lust- und kraftlos, jetzt zusätzlich endgültig gebrochen, noch einmal zurück kommen?

Magath mahnte

Trainer Magath zeigte sich schon vor Bielefeld vorsichtig, mahnte Fans und Presse und sagte, er habe schon die seltsamsten Dinge an den letzten Spieltagen erlebt. Ich war so blöd und glaubte ihm nicht, dachte mir: „jaja, lass ihn mal reden, wir schaffen das schon.“ Ich war wieder zum Optimisten geworden. Was danach folgte ist ein Saisonendspurt, wie ihn nur Hertha hinbekommt.

Führung in Bielefeld, Stuttgart gleichzeitig gegen Wolfsburg hinten. Der Klassenerhalt war rechnerisch sicher. Bin man in der Nachspielzeit ein Gegentor kassierte, zusätzlich glich Stuttgart in der 87. Minute ebenfalls aus. Heimspiel Mainz, schmeichelhaftes Unentschieden bis zu 82. Minute. Mir war scheißegal, dass der Punkt absolut unverdient gewesen wäre, was macht das in dieser Situation für einen Unterschied. Doch die Mannschaft zeigte sich erneut in den Schlussminuten unkonzentriert. Wie schon in Bielefeld. Wie schon gegen Augsburg in der Hinrunde. Und wie schon gegen Leverkusen in der Hinrunde.

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(Photo by Maja Hitij/Getty Images)

Dass Bayern nicht in der Lage ist, die Normalform gegen Stuttgart am nächsten Tag abzurufen? In Anbetracht der Umstände leider keine Überraschung, und dennoch massiv ärgerlich. Klar, man soll nicht auf die Konkurrenz hoffen, aber mal ehrlich, wer tut das nicht im Abstiegskampf? Denn wie gesagt, ob man Spiele am Ende verdient gewinnt oder verliert, verdient absteigt oder nicht, interessiert schlussendlich doch keinen.

Showdown in Dortmund und Stuttgart

Kommen wir zum Samstag. Und ich merke, dass der Text um einiges länger geworden ist als geplant. Wenn du, wenn Sie noch lesen, herzlichen Glückwunsch und vielen Dank.

Die Spieltage 32 und 33 haben mich konditioniert. So, wie jahrelang vor mir Hertha-Fans konditioniert wurden. Ich bin zum Pessimisten geworden. Alles andere als eine Niederlage beim BVB und gleichzeitigem Sieg der Stuttgarter gegen Köln hätte mich gewundert. Wie passend, ausgerechnet das Köln, welches uns am ersten Spieltag vor Augen geführt hat, dass auch diese Saison ein Krampf werden wird, hatte es mit in der eigenen Hand, ebenjene Saison für uns trotz aller Umstände tabellarisch zu retten. Das Führungstor von Belfodil kam überraschend, änderte jedoch nichts an meiner mentalen Verfassung, ich blieb pessimistisch. Auch weil Stuttgart zu diesem Zeitpunkt bereits führte.

Um die 60. Minute rum sagte ich zu meiner Frau, Köln hatte mittlerweile ausgeglichen: „Hey, es bräuchte noch drei Tore in 2 Spielen, damit wir in die Relegation müssen. Aber das wird auch passieren.“ Innerlich keimte dennoch eine Hoffnung auf. Wie so oft in dieser Saison. Tja, was folgte ist bekannt. 84. Minute Führung für Dortmund, 90+2 in Stuttgart erneute Führung für die Schwaben. Relegationsplatz für uns.

Zweite Liga, wir kommen!

Und ich? Ich hatte den großen Fehler begangen, für ein paar Minuten, insbesondere ab der 90. Minute in Stuttgart, zum Optimisten zu werden. Ich wollte es ein letztes Mal in dieser Saison sein, der Optimist. Vier Minuten? Ach das wird Köln schon hinbekommen. Wie gesagt, großer Fehler. Wäre ich Pessimist geblieben, vielleicht wäre der Fall nicht so tief gewesen. So habe ich eine Leere gespürt, die seit 2012 nicht mehr da war. Die vermutlich jeder Hertha-Fan gerade spürt. Wie soll man damit klar kommen? Ich weiß es momentan nicht und kann keine Lösung bieten. Ich kann nur darauf hoffen, dass die Zeit hilft die Wunden zu heilen.

(Photo by INA FASSBENDER/AFP via Getty Images)

Und so bleibe ich jetzt dabei und bin für die Relegationsspiele pessimistisch. Wir werden verlieren, egal gegen wen. Und wir werden in die zweite Liga gehen. Das steht für mich fest. Doch wir haben heute den Morgen nach dem Spiel. Ich kenne mich, leider. Ich werde spätestens ab Montag davon ausgehen, dass wir gewinnen. Ein ewiger Kreislauf, den Hertha auch noch ein letztes Mal in dieser Saison weiterführt. Und egal wie es ausgeht, ob 1. oder 2. Liga. Ich werde mich auf die neue Saison freuen. Und vom bestmöglichen Szenario ausgehen. Weil ich das nun mal bin. Und Hertha wird mir erneut wehtun und mich erneut enttäuschen. Und es wird ok sein. Wahrscheinlich. Denn es geht weiter immer weiter, wird für immer Hertha bleiben.

HaHoHe, auf eine bessere Zukunft!

Du kannst, denn du musst Hertha!

Du kannst, denn du musst Hertha!

Nach der peinlichen 1:4-Niederlage gegen Union Berlin sieht sich Hertha BSC am Rande des Abstiegs. Nur noch fünf Spiele bleiben, um auch nächste Saison in der Bundesliga spielen zu dürfen. Ein Weckruf.

Schon wieder Abstiegskampf. Auf die letzten Spiele nochmal alle Kräfte bündeln, sich hinter der blau-weißen Fahne gemeinsam versammeln. Die nächste Stufe in Sachen Support und Willen zünden. Nach den gemütlichen Jahren im grauen Mittelfeld ist man so eine Belastung als Fan weder gewöhnt, noch ist man gewillt, sie zum Dauerzustand verkommen zu lassen.

Bevor Fans aber resigniert die Trikots ablegen (lassen), gilt es dennoch, sich zusammenzuraufen und dem Verein(!) die so dringend benötigte Unterstützung zukommen zu lassen. Frei nach dem, Imanuel Kant zugeschriebenen Ausspruch: „Du kannst, denn du sollst.“ Nur soll Hertha nicht nur den Abstieg verhindern, Hertha muss ihn verhindern.

Der so formulierte Anspruch gründet sich nicht aus den sportlichen Ambitionen eines Investors, nicht aus den Eitelkeiten eines Präsidenten und schon gar nicht aus den Visionen eines Sportdirektors. Hertha muss die Klasse halten, weil die Fans und Mitglieder es verdient haben, dass sich jeder Verantwortlicher und jede Verantwortliche den Arsch aufreißt, um dieses Ziel zu erreichen. Ein Vorhaben, was in genau diesem Fall von Erfolg gekrönt sein wird.

Die Pflicht, die Klasse zu halten, besteht nicht um der Pflicht willen. Selbstverständlichkeiten existieren im Fußball nicht. Sie entspringt vielmehr aus dem Engagement all jener Fans, die trotz zwei Jahren Pandemie immer zum Verein standen, die Hertha-Kneipen Retter:innen sind, die seit Jahren für ein neues Stadion kämpfen, und die ihre Freizeit dafür aufbringen, bedürftigen Menschen auf den Straßen Berlins zu helfen. Sie dürfen nicht enttäuscht werden.

Absteigen tut man immer zusammen. Die Klasse halten auch. Die Fans müssen alles geben. Der restliche Verein und die vor allem die Mannschaft müssen nachziehen. Sie können es. Hertha BSC kann es.

[Titelbild: Dean Mouhtaropoulos/Getty Images]

Herthaner im Fokus: Am Boden

Herthaner im Fokus: Am Boden

Hertha verliert ein Bundesligaspiel. Soweit so gut, soweit bekannt und soweit mittlerweile die Regelmäßigkeit. Doch die Niederlage gegen den 1.FC Union Berlin bedeutet etwas anderes. Es ist eine Zäsur, deren Auswirkung nicht nur eine schwere Niederlage und ein weiterer Rückschlag im Abstiegskampf ist, es ist viel mehr. Es ist eine Frage von Charakter, Qualität und Interesse, sich mit einer Situation zu befassen und wie man sich nach Außen hin präsentiert. Und es ist in gewisser Weise eine Frage des Respekts vor zehntausenden Fans, die das erste Mal nach zwei Jahren Pandemie wieder im Stadion waren. Die hier gewohnte Analyse muss einem emotionalen Kommentar weichen.

Kein gewöhnlicher Text

Ich bin schon lange Fan von Hertha BSC, doch selten war ich den Tränen aus reiner Wut so nahe wie während ich diese Zeilen hier verfasse. Das hier wird kein gewöhnlicher „Herthaner im Fokus“-Text. Ich weiß nicht wie groß das Interesse ist, nach diesem Spiel die Zweikampfwerte von Dedryck Boyata zu lesen und eingeordnet zu bekommen. Übrigens gewann er gerade mal 25 Prozent dieser.

Trotzdem werden auch heute wieder Herthaner im Fokus sein. Es geht um die sensationelle Kulisse, die die Fans im Olympiastadion boten. Es geht darum wie sich Felix Magath und Fredi Bobic präsentieren. Und es geht um den Charakter einer Mannschaft, die wieder einmal vollkommen in sich zusammengefallen ist. Es geht außerdem um das aktuell wohl einzig Positive bei Hertha BSC: Die Jugendarbeit.

Die Hertha-Fans: Ein Fußballfest wird zum Fiasko

Es war angerichtet. Das erste Derby im Berliner Olympiastadion vor vollem Haus nach neun Jahren. Durch die Pandemie war es wirklich Jahre her, dass das Stadion der Hertha restlos ausverkauft war. Und Berlin hatte sich dieses Derby redlich verdient. Wir hatten in den letzten Wochen bereits Derby-Szenen aus Köln oder Bremen gesehen und fieberten seit Wochen auf das in Berlin stattfindende Event hin.

Und die Bilder, die entstanden, sind aller Ehren wert und versprachen genau das, was wir uns erhofften. Ein Fanmarsch durch die Stadt mit zehntausenden Fans, die ihre Rückkehr ins Stadion kaum erwarten konnten. Das sich immer mehr füllende Stadion, diese Lust, dieses kribbeln im ganzen Körper. Beide Fangruppierungen präsentierten ihre Choreographien, zündeten in großen Mengen Pyrotechnik und sorgten für geschichtsträchtige Bilder. Die Herthaner, die die Ostkurve in ein blau-weißes Meer verwandelten hüpften, sangen, feierten und feuerten die Mannschaft an.

(Photo by TOBIAS SCHWARZ/AFP via Getty Images)

Doch genauso brodelte es. Die Mannschaft, die diese Atmosphäre nicht ein einziges Mal wirklich auf ihr Spiel übertragen lassen konnte, wirkte gehemmt, verängstigt, überfordert und einfach qualitativ zu schwach, um irgendetwas dem Stadtrivalen entgegenzusetzen. Der herben 1:4-Klatsche folgte der Rapport bei den Ultras in der Ostkurve. Einige Spieler stellten sich den wütenden Fans und gaben ihre Trikots ab. Diese symbolische Aktion soll jeder für sich selbst bewerten. Ob das aber ein Motivationsschub für die nächsten Spiele ist, darf bezweifelt werden.

Felix Magath: Was war der spielerische Plan?

Aktuell wirkt Felix Magath noch nicht wie der große Heilsbringer. Seine größten Leistungen sind bisher eher schelmische Interviews zu geben, viel in Rätseln zu sprechen und vor allem die Gegner und auch leider seine eigene Mannschaft vor eben jene zu stellen. Beim Blick auf die Startelf musste man sich vor Verwunderung direkt wieder die Augen reiben.

(Photo by TOBIAS SCHWARZ/AFP via Getty Images)

Magath stellte das Team erneut in einem 4-1-4-1 auf, welches im zweiten Durchgang zu einem 5-3-2 wurde. Und dabei wurde wieder einmal kräftig durchgemischt. Die größte Überraschung war auf der Position des Linksverteidigers. Marvin Plattenhardts Ausfall wurde durch den 18-jährigen Juniorenspieler Julian Eitschberger kompensiert, der zu seinem Profidebüt kam. Weshalb Maximilian Mittelstädt zunächst auf der Bank platznehmen musste, wurde nicht ersichtlich. Marc Oliver Kempf und Dedryck Boyata stellten die Innenverteidigung, Peter Pekarik war wieder auf der rechten Seite zu finden. Das Mittelfeld, bestehend aus Linus Gechter, Vladimir Darida, Santiago Ascacibar und Lucas Tousart sollte für eine stabile Zentrale sorgen, aber versprach genauso wenig Tempo wie zuvor in Leverkusen. Im Sturm waren überraschend Myziane Maolida und Stevan Jovetic Teil der Startelf.

Doch stutzig machte vor allem, wer alles auf der Bank saß. Aufgrund der verletzt fehlenden Niklas Stark und Kevin-Prince Boateng konnten generell schon zwei Lautsprecher und Leistungsträger nicht am Spiel teilnehmen. Belfodil, der zwar glücklos in Leverkusen agierte, aber trotzdem für Spielwitz sorgen kann, fehlte, genauso wie die Power von Marco Richter, Suat Serdar oder Jurgen Ekkelenkamp. Die Aufstellung war schon früh eine Absage an kreatives Offensivspiel. Es bestand kein Plan, der zu Toren hätte führen können. Mehr als halbgare Konter waren nicht drin, ein sinnvoll aufgebauter Angriff war ebenso wenig vorhanden.

(Photo by Boris Streubel/Getty Images)

Es stellen sich Fragen, Herr Magath. Weshalb durften diese drei Spieler schon wieder nicht von Anfang an oder gar nicht spielen? Weshalb wurde ein Maximilian Mittelstädt erst zur 2. Halbzeit eingesetzt und der junge Julian Eitschberger einer vollkommen unnötigen Situation ausgesetzt? Und weshalb wird ein Spieler eingesetzt, dessen Name auch nach dem Spiel dem Trainer vollkommen unbekannt zu sein scheint? Was für peinliche und dramatische Zustände sind das in diesem Klub?

Fredi Bobic: Ist der Ernst der Lage von Hertha bekannt?

Es ist grotesk und macht geradezu aggressiv. Vor allem aber wird man sauer und fühlt sich als Fan von Hertha BSC komplett abgewatscht, bei sämtlichen Äußerungen des Sportvorstands der Hertha. Nach einem 1:6 gegen RB Leipzig die Niederlage schönzureden, war schon ein großes Stück Kunst.

Sich aber nach einer brutalen Derby-Klatsche bockig dem Interview zu stellen, dem Reporter mit schnippigen und süffisanten Antworten entgegenzutreten und die Niederlage praktisch als nichtig zu erklären, weil die Konkurrenz ebenso federn lassen hat, grenzt an einer Realitätsferne, die ihres Gleichen sucht. Fredi Bobic scheint vollkommen überfordert zu sein mit der Situation. Diesen unausgeglichen, ohne Qualität ausgestatteten Kader, der sämtlichen Charakter vermissen lässt, hat leider er zu großen Teilen mit zu verantworten.

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(Photo by ODD ANDERSEN/AFP via Getty Images)

Ob er, wie im Interview behauptet, wirklich nicht sein Trikot den Fans gegeben hätte, darf genauso hinterfragt werden. Auch in diesem Punkt scheint er in keiner Weise nachvollziehen zu können, unter welchem Druck die Mannschaft, die Spieler, ja einzelne Menschen, stehen. Fredi Bobic ist ganz weit weg von der Mannschaft und den Individuen dieses Vereins. Er scheint die Strömungen weder zu begreifen noch einordnen zu können und ist damit momentan nicht im Geringsten eine Hilfe im Abstiegskampf.

In der Niederlage zeigt man sein wahres Gesicht

Wie kann es sein, dass ein 20-jähriger Torhüter, der nur wenige Bundesligaspiele auf dem Buckel hat und im Sommer nach Dortmund wechselt, die emotionalsten Worte verliert? Wo ist der Kapitän, wo sind gestandene Spieler, die sich vor die Mannschaft stellen und den Geist des Teams beschwören oder sich äußern, weshalb es wieder einmal fehlgeschlagen ist?

Wieso muss ein Marcel Lotka, den Tränen nahe und um Argumente ringend im Interview stehen und praktisch darum betteln, dass die Mannschaft nicht absteigt? Wieso verlässt seit Jahren ein Dedryck Boyata als Kapitän Spiel für Spiel, Niederlage für Niederlage, als aller erstes den Platz und hat sich noch nie einem Interview gestellt? Warum äußern sich keine gestandenen Spieler wie Vladimir Darida, Ishak Belfodil oder Stevan Jovetic?

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(Photo by TOBIAS SCHWARZ/AFP via Getty Images)

Bei Hertha BSC gibt es keine Hierarchie, ja nicht einmal nennenswerte Identifikation, das wurde wieder einmal klar. Maximilian Mittelstädt schien das Sprachrohr zwischen Mannschaft und Fans zu sein, doch auch das wollte er im Interview nicht mehr ausführen. Die Verantwortung will keiner haben, sie wird einfach weitergeschoben, wo es nur geht. Im Abstiegskampf muss es genau diese Führungsspieler geben, denn sonst wird es ganz dunkel und vor dieser Dunkelheit steht die Hertha unmittelbar.

Die Identifikation mit dem Verein hat Potential

So oft wie schon von Tiefpunkten in dieser Saison gesprochen wurde, kann es eigentlich kaum sein, dass es noch schlimmer kommt. Aber wie wir sehen, kann das jede Woche tatsächlich der Fall sein. Die brutale Niederlage gegen Union Berlin gilt nicht nur als einer der Tiefpunkte der Saison. Sie gilt als ein Tiefpunkt vieler Jahre. In diesem Derby ist etwas zerbrochen, was zwar schon lange bröckelte, aber nun lauter und härter denn je nur so zerschellte.

Doch so viel wie in den letzten Jahren bei Hertha BSC schieflief, gibt es eine Sache, die in diesem Club besser läuft denn je und was wieder ein Aushängeschild und klarer Weg des Vereins werden muss. Die Jugendarbeit. Im Derby standen mit Marcel Lotka, Julian Eitschberger, Linus Gechter, Marton Dardai und Maximilian Mittelstädt fünf Eigengewächse auf dem Feld. Ihnen ganz besonders merkt man das Engagement und das Leid an. Sie alle sind talentierte Fußballer, die den Verein sehr weit führen könnten, doch es muss verdammt viel in anderen Bereichen passieren, dass das wirklich möglich sein kann.

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(Photo by Boris Streubel/Getty Images)

Doch sollte das eines Tages auch auf fruchtbaren Boden stoßen, kriegt man auch die aktuell stark leidende Verbindung zu den Fans wieder hin. In dieser Hinsicht zumindest bietet Hertha BSC einiges, was Potential birgt. Doch die zahlreichen Baustellen sind momentan woanders. Und sie gilt es verdammt nochmal schnell zu beenden.

[Titelbild:TOBIAS SCHWARZ/AFP via Getty Images]

Ein Hauch von 2012

Ein Hauch von 2012

In Berlin wird es niemals langweilig und bei Hertha BSC dieser Tage sowieso nicht. Ein Kracher folgt auf den nächsten, der Verein scheint keine Chance zu haben, zur Ruhe zu kommen. Und selbständig scheint man dazu auch nicht mehr in der Lage zu sein. Nachdem am Sonntagvormittag Tayfun Korkut entlassen wurde und damit nur folgerichtig auf die letzten Entwicklungen reagiert wurde, schepperte es an der Hans-Braun-Straße direkt ein weiteres Mal. Mit Felix Magath wurde ein sehr prominenter Nachfolger verpflichtet. Ein Kommentar.

Parallelen zur Vergangenheit

Einen Trainer ohne sportliche Not entlassen, einen erfolglosen verpflichtet, fünf Niederlagen in Folge, eine Trainerentlassung, ein prominenter Nachfolger und am Ende steigt man ab. Genau so sah die Reihenfolge in der Saison 2011/2012 in Berlin aus. Und zumindest die ersten fünf Punkte haben sich nun bei Hertha BSC zehn Jahre später wiederholt. Es ist erschreckend und gleichzeitig faszinierend, wie sich gewisse Gesetzmäßigkeiten im Fußball und in der Bundesliga niemals zu ändern scheinen.

Erinnern wir uns an die Situation im Winter 2011/2012. Die Hertha war als Aufsteiger zurück in der Bundesliga und befand sich nach der Hinrunde auf einem akzeptablen 11. Platz. Doch die damals handelnden Personen um Michael Preetz und wohl weiteren Hertha-Funktionären überwarfen sich mit dem Aufstiegstrainer Markus Babbel und eine sportlich nicht zu rechtfertigende Entlassung war perfekt. Michael Skibbe sollte folgen und avancierte zum erfolglosesten Hertha-Trainer aller Zeiten. Nach vier Niederlagen in der Bundesliga und einer weiteren im Pokal durfte er nach wenigen Wochen wieder die Koffer packen. Otto Rehhagel folgte, brachte einen gewissen Glamour in die Hauptstadt und unterhielt insbesondere die Journalist*Innen auf den Pressekonferenzen mit seinem Humor.

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(Photo credit should read CHRISTOF STACHE/AFP via Getty Images)

Der sportliche Erfolg war überschaubar, am Ende stieg die Mannschaft nach einem legendären Relegationsdrama gegen Fortuna Düsseldorf ab. Zehn Jahre später lassen sich die Namen Babbel, Skibbe, Rehhagel und Preetz hervorragend durch Dardai, Korkut, Magath und Bobic ersetzen. Natürlich ist die Mannschaft noch nicht abgestiegen und immerhin kann man Korkut noch zusprechen, dass er vor seinen fünf Niederlagen in Folge, auf die seine Entlassung folgte, noch ein paar Punkte sammelte. Im Pokal schied allerdings auch er aus.

Das Hertha-Drama der letzten Wochen und Monate

Die Nachrichten, die sich nahezu im Stundentakt bei der Hertha überschlagen, sorgen für eine gewisse Schnelllebigkeit und lassen kaum zu, sich mit gewissen Themen noch einmal eingehend zu beschäftigen. Tayfun Korkut wird sehr wahrscheinlich keine Gemeinsamkeiten mehr mit Hertha BSC haben in der Zukunft und trotzdem ist er allgegenwertig. Auch wenn er nicht mehr in der Verantwortung steht.

Als ich Ende November 2021 ein Kommentar zum Einstieg von Tayfun Korkut verfasst habe, erwähnte ich, dass die Spieler eine Mannschaft seien und lediglich Orientierung benötigen. Außerdem, dass Tayfun Korkut die Chance hat, aus der Schublade des chronisch erfolglosen Trainers zu steigen. Einige Wochen später muss man konstatieren, dass die Mannschaft, die damals möglicherweise tatsächlich noch ein Team war, mittlerweile keins mehr ist. Und das liegt auch oder vielleicht sogar vor allem an Korkut. Aber nacheinander, es gibt einige Stellen, die Korkut brennend hinterlassen hat.

Personal und Teamhierarchie

Korkut hatte mit seinen Personalentscheidungen im großen Stil Leistungsträger, wie Marco Richter und Suat Serdar und zuletzt sogar den durchaus zu Recht in der Kritik stehenden Torhüter Alexander Schwolow abgesägt, nachhaltig frustriert und verunsichert. Ob Niklas Stark oder Dedryck Boyata Kapitän waren, war eigentlich vollkommen uninteressant, nach außen hin wurde nie einer der beiden von Korkut dahingehend unterstützt oder gar gestärkt.

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(Photo by Christian Kaspar-Bartke/Getty Images)

Spieler, die Leistungen gezeigt haben, wie Maximilian Mittelstädt, mussten wie gegen Gladbach plötzlich um Einsätze bangen. Selbiges bei Ishak Belfodil eine Woche zuvor gegen Frankfurt. Die einzige Konstante war mangels Alternativen Peter Pekarik, der nahezu konkurrenzlos die rechte Seite beackerte, aber mittlerweile Bundesliganiveau stark vermissen lässt. Wer weiß, ob er als einziger Deutscher Meister im Kader unter seinem ehemaligen Förderer und Meistertrainer aus Wolfsburger Tagen einen zweiten (oder eher zehnten) Frühling feiern kann.

Die Taktik

Korkut begann die ersten Spiele mit dem wohl einfachsten System, einem 4-4-2, respektive 4-2-2-2. Bis Weihnachten lohnte sich dieses System, bis auf einer deutlichen 0:4-Klatsche in Mainz sogar. Das fehlende Offensivspiel wurde endlich angekurbelt und die Qualitäten, die ja durchaus in der Mannschaft schlummern, konnten entfacht werden. In dieser Zeit spielte Hertha den attraktivsten und erfolgreichsten Fußball, mit dem krönenden Höhepunkt am 17. Spieltag gegen Dortmund.

(Photo by TOBIAS SCHWARZ/AFP via Getty Images)

Doch die Taktik und das System sind sicherlich ein netter Einstieg, aber keine Variante zur taktischen Weiterentwicklung. In keinem der Spiele 2022 war die Hertha in der Lage über mehr als eine Halbzeit zu überzeugen. Und das vor allem weil Korkut mit persönlichen Machtkämpfen gegen die Mannschaft beschäftigt war und taktisch zu limitiert, um der Mannschaft eine Weiterentwicklung zu ermöglichen. Im Endeffekt stehen 2022 neun Spiele in der Bundesliga zu Buche, in denen ganze zwei Punkte gesammelt werden konnten. Das Aus im Pokal kommt erschwerend hinzu.  

Auch die Außendarstellung hat Hertha geschadet

Ich möchte hier in keiner Weise etwas gegen die Privatperson Tayfun Korkut sagen. Der Mann könnte durchaus ein sehr sympathischer Kerl und witziger Zeitgenosse sein. Seine Außendarstellung seit seinem Amtsantritt in Berlin sorgte allerdings nie auch nur im Geringsten für Aufbruchsstimmung. Er wirkte meistens fahrig, überfordert und so, als wäre er gerne überall, nur nicht in Berlin.

Sicherlich wird das auch auf die Spieler abgestrahlt haben, die nur die Tage zählten, bis es vorbei war. Trauriger Höhepunkt war seine ins Fernsehen übertragende Trainingsrede aus einem wirren Mix aus Englisch und Deutsch. Wie fruchtbar diese Ansage war, sah man am kläglichen Auftritt in Mönchengladbach.

Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende

Ob die Entlassung von Tayfun Korkut zu spät kam, wird sich nach dem 34. Spieltag und möglicherweise sogar erst nach der Relegation zeigen. Die Hypothek durch Korkut ist gewaltig und die einzige Hoffnung ist, dass der Schaden, der hinterlassen wurde, reparabel ist. Die Mannschaft ist hochgradig verunsichert, vermutlich hapert es stark an Disziplin und es herrscht aufgrund vieler Vertragsungereimtheiten eine schwache Moral und kaum eine Hierarchie.

Felix Magath muss vermutlich auch psychisch viel Arbeit leisten. Warum und weshalb die Wahl auf Magath fiel werden auch wir in weiteren Texten ergründen müssen. Doch die aktuelle Situation zeigt auch, dass ein Klassenerhalt wohl kaum die Probleme rund um den Verein lösen wird. Das Gewitter um den Verein wütet seit über zweieinhalb Jahren und wird auf die unseriösesten und respektlosesten Arten nur noch mehr gepushed. Ein Abstieg wäre trotz allem katastrophal.

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(Photo by Martin Willetts/Getty Images)

Tayfun Korkut war insgesamt nur ein Symptom, nicht der Grund für die Talfahrt. Die Lage ist schlecht, sehr schlecht, aber noch ist sie nicht hoffnungslos.

[Titelbild: CHRISTOF STACHE/AFP via Getty Images]

Warum ich Hertha so liebe

Warum ich Hertha so liebe

Es sind mal wieder dunkle Zeiten rund um Hertha BSC. Die Entwicklung der letzten zweieinhalb Jahre schmerzt gewaltig, der Versuch ein international erfolgreicher Club zu werden, scheint krachend gescheitert zu sein. Doch sind wir Hertha-Fans mal ganz ehrlich, darum geht es nicht.

“Trauer, Freude, Frust spür’n wir Jahr für Jahr, doch am Ende sind wir wieder für dich da!“

Die schwachen Spiele der letzten Wochen und Monate haben reingehauen und sie taten – nein, sie tun auch immer noch – weh. Die aktuelle Situation ist gefährlich und als Fan weiß man nicht so richtig, wie man sich damit abfinden soll. Die Saison war spätestens mit dem Ausscheiden im Pokal verschenkt, es geht einzig und allein ums nackte Überleben. Und im Fußball-Business ist das alles wichtig. Es ist sogar überlebenswichtig. Doch es gibt einen Fangesang, der vieles ausspricht, was eigentlich viel wichtiger ist. Gerade in diesem brutalen kapitalistischen Business: „Gemeinsam werden wir wieder siegreich sein, Hertha BSC – Traditionsverein! Trauer, Freude, Frust spür’n wir Jahr für Jahr, doch am Ende sind wir wieder für dich da!“

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(Photo by JOHN MACDOUGALL/AFP via Getty Images)

Ich bin seit knapp 18 Jahren Fan von Hertha BSC. Damit habe ich leider die goldenen Jahre in der Champions League um die Jahrtausendwende verpasst, doch auch ich kann von wundervollen Ereignissen um die Hertha zehren. Im Übrigen auch im sportlichen Bereich. In den letzten Jahren habe ich etwas gelernt, was mir immer mehr bewusst wird. Jede Generation, ja jeder Fan als Individuum schreibt seine eigene Geschichte und Legende mit dem Verein. Erlebnisse werden zu Erinnerungen. Erzählungen älterer Fans werden zu Mythen, die man immer wieder hört, sich in der eigenen Romantik ausschmückt und Unwissenden nur zu gerne weitererzählt.

Wenn ich Anekdoten vom legendären Nebelspiel gegen Barcelona höre oder Highlights vom Sieg gegen den FC Bayern München 2001, als Pal Dardai und Zecke Neuendorf das Spiel entschieden, sehe, dann sind das für mich wundervolle Momente, die der nahen Vergangenheit angehören, für mich aber trotzdem so etwas wie romantische Mythen rund um den Verein sind. Hertha BSC steht für vieles, insbesondere für eine beeindruckende Geschichte. Auch wenn der Verein seit seinen Meisterschaften Anfang der 1930er Jahre keine nennenswerten Titel mehr sammeln konnte, hat dieser Verein eine Vergangenheit, bei der von der Spannung her, in Berlin höchstens noch Tasmania Berlin mithalten kann.

Wie alles begann

Als ich als kleiner Junge – es wird 2002 oder 2003 gewesen sein – meine ersten großen Berührungspunkte mit Fußball hatte, war mein fußballerischer Lebenslauf bei weitem nicht so vorgezeichnet, wie er sich entwickelt hat. Meine Eltern waren trotz ihrer DDR-Vergangenheit große Bayern-Fans, mein späterer Stiefvater Fan von Bayer Leverkusen. Mein erstes Trikot, welches ich besaß, war also ein Kinder-Trikot von Oliver Kahn. Das EM-Finale 2004 zwischen Griechenland und Portugal war das erste Spiel, welches ich komplett verfolgt hatte, ohne mir vor kindlicher Langeweile eine andere Beschäftigung zu suchen. Und wahrscheinlich hätte es mir niemand verübelt, wenn ich gerade das Spiel, was wahrlich kein fußballerischer Leckerbissen war, auch nicht zu Ende geschaut und mich komplett vom Fußball distanziert hätte. Doch genau dieses Spiel ist bis heute sehr bezeichnend für mein Verständnis von Fußball und meiner Liebe zu Hertha.

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Ich brauche nicht die große Explosion, aber ich will das Feuer, das die Spieler in sich tragen, auf dem Platz sehen. Und über viele Jahre bekamen wir genau das von unserer „Alten Dame“. Nach einigen Sportschau-Abenden mit meinem Vater hab ich ihn also gefragt, ob wir mal ins Stadion gehen könnten. Gesagt getan. Am 6. November 2004 saß ich als neun jähriger Junge zum ersten Mal auf der Tribüne des Olympiastadions. Vom Spiel gegen Werder Bremen habe ich damals nicht viel mitbekommen, denn – und hier kommen wir zu einem weiteren Punkt, den sicherlich sehr viele Fans der Hertha mit mir teilen und auf den ich im späteren Verlauf dieses Texts nochmal eingehen werde – ich war praktisch innerhalb weniger Sekunden von der Magie des Olympiastadions gefesselt.

Mit offenem Mund und großen Augen schaute ich mich um. Ich hatte noch nie so ein großes und lautes Gebäude gesehen und wusste kaum wie mir geschah. Zwischendurch fragte ich meinen Vater, ob denn das Spiel schon begonnen hätte? Dass ich nicht mitbekommen hatte, dass das Spiel seit über einer halben Stunde lief, lässt entweder bezüglich der Spielqualität tief blicken oder verdeutlicht nochmal meine kindliche Begeisterung für das Spektakel, welches das Geschehen auf dem Rasen begleitete. Das Spiel endete 1:1. Alexander Madlung hatte in der allerletzten Sekunde den Ausgleich erzielt. Ich wirbelte meinen Hertha-Schal, den mir mein Vater kurz vor Anpfiff noch gekauft hatte, rum, als wäre es das was ich seit Jahren tun würde.

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(Photo by Stuart Franklin/Getty Images)

An diesem Tag hatte Hertha BSC einen neuen Fan gewonnen. Über die nächsten Monate festigte sich meine Liebe nur noch mehr. Die Mannschaft machte es mir auch leicht. Spieler wie Gilberto, Yildiray Bastürk und insbesondere Zauberer Marcelinho verzauberten die Fans. Für mich ist diese Mannschaft die prägendste meines Fandaseins gewesen. Und schon damals war alles Himmel und Hölle. Einerseits schoss Marcelinho gegen den SC Freiburg das wohl spektakulärste Tor, was ich je im Stadion live gesehen habe, andererseits musste ich mit ansehen, wie die Mannschaft 2005 am letzten Spieltag gegen Hannover 96 den Einzug in die Champions League verspielte.

Hertha begeistert Menschen

Es folgte ein Leben, in dem der Fußball und ausgerechnet dieser Verein einen sehr zentralen Punkt einnahmen. So kitschig und antik das klingen mag, aber mit meinen  Freunden hörte ich jeden Samstag-Nachmittag dass RBB Info-Radio mit der Bundesliga-Konferenz, während wir die Spiele in meinem Zimmer mit einem Gummiball und Schüssen gegen die Wand nachspielten. Abends durfte die Sportschau niemals fehlen. Wenn ich mit meinen Eltern an einem Samstagnachmittag unterwegs war, bestand ich selbstverständlich immer darauf im Auto sitzen zu bleiben, um Radio hören zu können.

Hertha bemühte sich in den Jahren sehr darum, Kinder und Jugendliche an den Verein zu binden. Auf Einladung des Kids-Clubs, dessen Mitglied ich damals war, bin ich mit einem alten Schulfreund zu einem Kino-Event gegangen, wo wir „Der König von Narnja“ schauten. Ein Event, das im Vorfeld von Maskottchen Herthinho und Zecke moderiert wurde. Einen Kinosaal mieten und einen aktuellen Film kostenlos für Kinder und Jugendliche ausstrahlen. Es kann so einfach sein junge Fans an sich zu binden.

Wenige Jahre später durfte ich meinen Onkel, der damals Arzt auf einer Krebsstation war, und seine Kollegen und Patienten zu einem Hertha-Spiel begleiten. Hertha gewann das Spiel gegen die Freunde aus Karlsruhe mit 4:0 und beendete die Hinrunde auf Platz 3. Es war die legendäre „Fast-Meistersaison“ 2008/2009. Auch hier bemühte sich Hertha wieder um die Nähe zu den Fans. Das Spiel, welches wir in einer VIP-Loge des Olympiastadions verfolgen durften, wurde abgerundet durch die damals verletzten Spieler Josip Simunic und Sofian Chahed. Beide schauten mit uns das Spiel, waren für lustige Gespräche zu haben und standen für viele Fotos zu Verfügung. Wieder eine sehr einfache Möglichkeit Nähe zu Fans aufzubauen. 

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Nach der erfolgreichsten Bundesligasaison, die ich als Hertha-Fan miterleben durfte, folgte dagegen die schlechteste. 2010 stieg Hertha sang- und klanglos ab, aber da hatte mich der Verein schon so sehr an sich gebunden, dass ich mich trotz der enttäuschenden Saison nicht mehr lösen konnte. Und selbst aus dieser Saison stammen Kuriositäten, von denen sich Herthaner bis heute erzählen. Etwa die von Torhüter Sascha Burcherts Kopfballklärungen verursachten Gegentreffer vom HSV oder dass die Mannschaft trotz ihrer aussichtslosen Position auf dem letzten Tabellenplatz stehend den amtierenden Meister VfL Wolfsburg mit 5:1 besiegte. Den Abstieg verfolgte ich damals als 14 Jähriger – wie sollte es anders sein – am Radio. Nach einem Unentschieden gegen Bayer Leverkusen am 33. Spieltag war er besiegelt und ich stand mit Tränen in den Augen am Küchenfenster und wollte nicht wahrhaben, dass wahrgeworden war, was sich seit Wochen angekündigt hatte.

Ab der folgenden Saison änderte sich meine Art Fan zu sein. Ich ging nicht mehr mit meinen Eltern oder anderen Erwachsenen ins Stadion. Von nun an wollte ich mit Freunden regelmäßig ins Olympiastadion gehen und die Mannschaft lautstark unterstützen. Auch die Plätze auf der Tribüne änderten sich. Vom Familienblock ging es in den Oberring, wo durch die Ostkurve angeleitet, eine brachiale Stimmung aufgebaut wurde. Begünstigt durch die guten Spiele in der 2. Bundesliga und den Wiederaufstieg erfuhr ich wie es war Teil einer riesigen Gemeinschaft zu sein. Schulter an Schulter vorm Spiel einschwören, mit erhobenen Schals Frank Zanders „Nur nach Hause“ singen und in jedem Spiel Vollgas geben und die Mannschaft zum Sieg schreien oder sie zumindest lautstark zu begleiten.

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Als Jugendlicher und Schüler, der immer noch finanziell schwer von seinen Eltern abhängig war, gab ich so ziemlich all mein Taschengeld für Stadiontickets aus. Heutzutage weiß ich gar nicht mehr, wie ich mir nebenbei noch etwas anderes leisten konnte. Ich gab viel zu viel Geld für Hertha aus bzw. wurde von dubiosen Leuten bei Ebay auch gerne mal ordentlich abgezockt. Mit Freunden fuhr ich am späten Freitagabend bis an die Ränder Berlins, nur um in dunklen Gassen noch schnell Karten für den nächsten Samstag zu bekommen. Ich versuchte, viele Leute von Hertha zu überzeugen und nahm regelmäßig unterschiedliche Personen mit ins Stadion. Manche konnte ich mit meiner Leidenschaft anstecken, andere nicht und das war okay.

Legenden werden geboren

Bis heute erlebte ich um Hertha Ereignisse, die im Laufe der Jahre zu Legenden geworden sind, obwohl man sie zum Zeitpunkt ihres Geschehens nie als diese wahrgenommen hätte. Jahre später sind sie Anekdoten zum in Erinnerung schwelgen. Ausnahmespieler wie Marcelinho und Marko Pantelic. Ein auf dem Cottbusser Mittelkreis tanzender Dieter Hoeneß. Raffaels Lauf auf das leere Tor gegen Hoffenheim am letzten Spieltag 2012. Die folgende Relegation gegen Fortuna Düsseldorf sowieso.

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Ob es ein Luhukay-Ausraster auf einer Pressekonferenz war, die erstaunlich gut auch jetzt, viele Jahre später, 2022 hervorragend passen würde. Die beste Zweitligasaison aller Zeiten mit 18 Toren Ronnys, die er zum Teil mit brachialer Gewalt erzielte. Eine viereinhalb Jahre haltende Ära mit Pal Dardai. Europa-League-Spiele in Bilbao und Östersund. Ein Pokal-Halbfinale gegen Borussia Dortmund, wofür es sogar Sondertrikots gab.

Bayern-Spiele, in denen entweder in der bereits abgelaufenen Nachspielzeit der Sieg aus den Händen gerissen wurde oder noch viel besser, ein Sieg im ausverkauften Olympiastadion gegen den Rekordmeister. Nur drei Stück gab es davon seit 2001, was diese Spiele zu besonderen Momenten macht. Der Einstieg Lars Windhorsts, das Engagement von Jürgen Klinsmann, die Transferphase im Winter 2020, das Ende der Ära Michael Preetz, die Rückkehr Pal Dardais, der Abstiegskampf 2021 während der Corona-Pandemie.

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Doch auch zu Hertha gehören Dinge wie absurde Marketingkampagnen, Versuche, Hertha BSC in anderen Orten und Schichten der Stadt zu verankern. Komische Marketingsprüche, mit denen man sich eher blamiert, als dass sie ein cooles Image ermöglichen. Doch auch die Mitarbeiter des Vereins haben irgendwann festgestellt, dass man zwar die Vielfalt der Stadt leben kann und auch sollte, aber niemals die Grundsätze, die Fans und die Seele des Vereins verändern kann.

Die Macht des Olympiastadions

Als ich mich im Vorfeld auf diesen Text vorbereitet habe, habe ich einige meiner Freunde gefragt, warum sie Fans von Hertha BSC geworden sind und es immer noch sind. Jeder hat über die Macht des Olympiastadions gesprochen. Es gehört zu den vielen Mythen rund um den Verein. Selbstverständlich darf nicht unerwähnt bleiben, dass das Bauwerk aus der wohl dunkelsten Zeit der deutschen Geschichte stammt. Damit wurde sich in der Vergangenheit aber schon häufig genug auseinandergesetzt. Das Olympiastadion steht schon lange nicht mehr für das, für was es gebaut wurde.

Doch in diesem Stadion gab es für einen jeden Fan geballte Emotionen, ein Wechsel aus Freude und Trauer. Kinder wurden und werden immer noch zu Fans in dem Stadion, ob man will oder nicht. Es ist ein Bauwerk, das für viele Hertha-Fans eine Hassliebe darstellt. Riesig, einer Hauptstadt würdig und bei weitem kein seelenloser Stadionklotz, wie er in vielen deutschen Städten steht. Dazu eine Tartanlaufbahn, die ikonisch für das Stadion ist. Auf der anderen Seite sorgt genau diese Bahn für eine extreme Entzerrung des Stadions, durch das Marathontor zieht bei schlechtem Wetter unangenehmer Wind und die Einlasssituation am Olympiastadion ist für moderne Veranstaltungen schon lange nicht mehr ausgelegt.

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Doch die Macht und Magie des Stadions sollte nicht unterschätzt werden. Am 9. November 2019, also fast genau auf den Tag 15 Jahre nach meinem Stadiondebüt, konnte ich auch meine kleinen Brüder für Hertha BSC begeistern. Die damals ebenfalls Neunjährigen mussten zwar eine 2:4-Niederlage gegen RB Leipzig mit ansehen. Aber es waren nicht die sehr schönen Tore von Timo Werner, die sie begeisterten, es war die Mauer-Choreo, die vor dem Spiel organisiert wurde. Die Retro-Trikots, die Hertha für dieses Spiel trug und die bombastische Stimmung der Ostkurve. Auch sie haben 15 Jahre nach mir zum ersten Mal den üblichen Kuttenträger gesehen, der mit einem Gürtel aus etlichen Vereinsschals und einer Bierflasche in der Hintertasche zum Stadion trottet.

Es sind noch immer dieselben Bilder und Szenen, die die Menschen vom Fußball begeistern. Bleibt zu hoffen, dass die Corona-Pandemie dieser Begeisterung nicht nachhaltig geschadet hat. Zusammen mit einem meiner besten Freunde ist es uns auch gelungen, seinen kleinen Bruder für Hertha zu begeistern. Kaum zu glauben nach einem 0:0 gegen den FC Augsburg, Temperaturen um den Gefrierpunkt und 90 Minuten Dauerschneeregen direkt ins Gesicht. Auch wenn es möglicherweise Zeit ist für ein neues Stadion, sollte der Verein die Macht des Olympiastadions nicht unterschätzen und beim Bau einer neuen Heimstädte darauf hoffen, dass die Seele niemals verloren geht.

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(Photo by ODD ANDERSEN/AFP via Getty Images)

Genauso wie die Geschichten, die den Klub ausmachen. Schwer gebeutelt vom Nationalsozialismus, zwischendurch verboten worden, aber vor allem mit einer wundervollen Gründungsgeschichte. Die Restauration des Dampfers, nach dem der Verein 1892 benannt wurde, ist zwar schon ein jahrelanges Thema, aber es ist so wichtig für die Identifikation des Vereins. Allein der Vereinsname ist einzigartig. Ebenso wie das Logo, was sich über die vielen Jahre zwar nach und nach veränderte, aber immer Wiedererkennungswert hatte und heute mit „Fahne pur“ wohl in seiner schönsten Form existiert.

Die Geschichten um den Wedding, wo das erste Stadion der Hertha stand. Die „Plumpe“ musste irgendwann Wohnhäusern Platz machen, doch ein kleines Denkmal steht noch. Schon zur Zeit der Deutschen Teilung war Hertha ein Sehnsuchtsort vieler Menschen, die Fans heutiger Lokalrivalen waren und vom Osten aus versuchten die Atmosphäre des von der Mauer nur wenige hundert Meter entfernten Stadions zu erleben.

Oder die vielen Weddinger Talente, die Hertha in den 2000er Jahren von den Bolzplätzen locken konnte. Die Boatengs, Ben Hatiras, Dejaghas und Eberts sorgten für eine nie dagewesene Spielergeneration, die für einen unfassbaren Imagebooster des Vereins sorgten.

Hertha ist …

Hertha ist nicht das plastische Marketingprojekt, was man mit der modernen Start-Up-Mentalität kreieren möchte. Hertha ist eine trockene, zu harte Brezel im Olympiastadion oder fantastische Hotdogs, die leider viel teuer sind. Der Verein ist ein fettiges Schnitzelbrötchen, an dem man sich beim ersten Bissen ziemlich fies den Gaumen verbrennt und letztendlich schmeckt es dennoch köstlich. Hertha ist eine schier unendliche U-Bahn-Fahrt. Für mich, der aus Pankow kommt, heißt es einmal komplett die U2 zu fahren, um am Olympiastadion anzukommen.

Man kennt die Geschichten, dass sich Fans an einem bestimmten Ort in ihrer Stadt treffen und dann gemeinsam zum Stadion pilgern und von Straße zu Straße die Leute dazustoßen. Das ist in einer Metropole wie Berlin nur schwer zu organisieren. Aber eine U-Bahnfahrt ist vergleichbar. Wenn Spieltag ist, ist Spieltag und das merkt man. An jeder Station steigt jemand dazu. Spätestens ab der Station Zoologischer Garten ist die Bahn rappelvoll und die Stimmung wird heißer. Der Weg vom Bahnhof bis zum Stadion gehört zum Ritual, zum Spannungsaufbau. Genauso wie das kleine Wäldchen, das viele gerne für ihre letzte Notdurft nutzen.

Ich denke Hertha-Fans wissen, was ich meine. Hertha steht nicht nur für Charlottenburg-Wilmersdorf, wo das Olympiastadion steht oder für den Wedding, wo früher gespielt wurde. Der Verein steht für die komplette Millionenstadt, hat Fans in jedem Winkel, sogar im Speckgürtel und in Brandenburg. Man fühlt, dass man als Herthaner niemals allein ist. Ein Gefühl, dass Fans von Vereinen, die sich nie getraut haben über einen einzigen Bezirk hinwegzuschauen, möglicherweise nicht kennen. Irgendwer vor dir an der Supermarkt-Kasse hat immer eine EC-Karte im Hertha-Style. Vor ein paar Tagen habe ich eine Aussage gehört. die mich sehr schmunzeln ließ. „Hertha ist eine augenscheinlich langweilige Person, die in irgendeiner verrauchten Altberliner Kneipe sitzt und vor ihrer Biertulpe übers Leben meckert. Aber wenn man sich mit ihr beschäftigt, hat die Person Unmengen zu erzählen.“

Und so ist es. Sportlich sind es unfassbar schwere Zeiten und wir alle wünschen uns, dass die Mannschaft schnell zurück in ruhige Fahrgewässer findet und bekanntlich stirbt die Hoffnung zuletzt. Aber auch wenn es den Verein nach neun Jahren wieder treffen sollte, dann ist es unfassbar traurig und es wird gerade im personellen Bereich riesige Veränderungen geben. Doch eines ist sicher. Die Geschichte und die Seele bleiben für immer und es liegt an uns sie weiterzuschreiben.

HaHoHe

[Titelbild: TOBIAS SCHWARZ/AFP via Getty Images]